Bericht: Hilfsreise von Orienthelfer e.V. nach Libanon und Jordanien, Mai 2012

Auf meinem Mobiltelefon leuchtet es auf: „Neue Nachricht“. Als ich die SMS aufrufe, kann ich kaum glauben, was da steht. „Das Ministerium für Tourismus heißt Sie in Syrien herzlich willkommen. Für Informationen und Wünsche wählen Sie die Nummer 137“. Zum Glück sind wir nicht in Syrien, aber die Grenze liegt tatsächlich in Sichtweite.

Von den Hügeln auf der libanesischen Seite können wir bis nach Homs sehen. Dort tobt ein verheerender Bürgerkrieg, doch die syrische Telefonfirma MTNSyr verschickt noch Nachrichten an ausländische Touristen, die es in Syrien längst nicht mehr gibt. Denn Sehenswürdigkeiten, einst der Stolz Syriens, sind inzwischen an vielen Orten unter Beschuß geraten. Die Kriegsparteien schieben sich gegenseitig die Schuld an den Verwüstungen zu. Doch die Schäden an altem Gemäuer interessieren derzeit niemanden. Zu Recht. Schließlich ist noch nicht einmal die humanitäre Katastrophe bei den Menschen und Politikern angekommen.

Wir sind zum vierten Mal bei den Flüchtlingen im Wadi Khaled. Die Opfer des Assad-Regimes harren zum Teil schon seit über einem Jahr in unerträglichen Zuständen hier aus. Tausende Syrer sind in den gebirgigen Norden des Libanon geflüchtet, auf den Bergspitzen liegt noch Schnee. Das Wadi Khaled genannte Gebiet ist vom libanesischen Militär abgeriegelt. Selbst syrische Landsleute aus dem Libanon, die im Wadi helfen wollen, haben keinen Zutritt. Kleine Hilfsorganisationen, Journalisten, Kriegslüsterne, Schaulustige, niemand darf den Checkpoint passieren. Wir sind diesmal nur zu zweit unterwegs, ein libanesischer Taxifahrer, dem wir vertrauen, sitzt am Steuer. Als persönliche Gäste eines Politikers dürfen wir passieren. Neben mir auf dem Rücksitz steht ein riesiger Karton, prall gefüllt mit unterschiedlichsten Spielsachen, Malbüchern und Stiften für die Kinder.

Zwölf Monate weiß die Welt von der syrischen Katastrophe. Inzwischen haben wir von Orienthelfer e.V. uns um einige Tausend Flüchtlinge gekümmert. Nie fühlten wir uns überflüssig oder fehl am Platz, obwohl wir weder an finanziellen Mitteln noch an Prominenz mit den internationalen Hilfsorganisationen mithalten können. Vom Flughafen der libanesischen Hauptstadt Beirut bis in „unser“ Wadi sind es drei bis vier Stunden Autofahrt. Dann stehen wir unter den ersten Flüchtlingsfamilien, verteilen die eingekauften Dinge, aber auch Geld. In diesem Fall bedeutet Geld auch Würde. Die Menschen können sich mit ein paar Dollars selbst ein paar kleine Wünsche erfüllen und beim Einkauf im Tante-Emma-Laden wieder ein wenig vom „normalen“ Leben spüren, das man ihnen genommen hat. Sie können für einen Augenblick selbst wählen, welche Zahnbürste sie haben wollen. Und müssen eben nicht all das dankbar annehmen, was der Helfer gerade so aus seiner Tasche zaubert. Schon während unserer Hilfsreise frage ich mich, ob es überhaupt deutsche Hilfe gibt. Aus Deutschland ist, zumindest bei all den vielen Flüchtlingen, mit denen ich inzwischen Kontakt hatte, kein Krümel Brot, kein Fetzen Stoff, keine Seife, keine Socke, kein Euro angekommen.

Was hat sich seit unserem letzten Besuch bei den Flüchtlingen geändert? Bei der ersten Reise haben uns die Flüchtlinge noch mit einem dringenden Appell an die Welt verabschiedet. Helft uns! Schafft Flugverbotsszonen über Syrien! Schickt Ärzte! Sie hatten noch Hoffnung auf die Hilfe von außen. Diese Hoffnung ist erloschen. „Die Welt hat uns vergessen.“ Diesen Satz höre ich oft, im Wadi Khaled, in Beirut, in Mafraq, in Ramtha, in Amman. „Aber wir geben nicht auf. Wir sind Syrer.“ Diese Worte stammen nicht von Revolutionskämpfern, die haben wir nämlich nicht getroffen. So sprechen mit uns die Omas, Witwen und Waisen, oft mit Tränen in den Augen.

Vom Libanon fliegen wir nach Jordanien, die Flugzeit beträgt eine Stunde. Unter uns liegt Damaskus. Aus der Höhe sieht das Land friedlich aus. Das Elend erleben wir erst wieder am Boden. In Jordanien leben inzwischen 110.000 Syrer, täglich werden es mehr. Sie kommen aus Daraa, Damaskus, Homs, Hama. Auch eine Familie mit sieben Kindern hat den riskanten Weg über die Grenze geschafft. Als wir der Frau unsere kleine Hilfe übergeben, ringt sie mit den Worten. Ihr Mann ist zurück in Syrien. „Zum Kämpfen?“, rutscht es mir heraus. „Nein, er ist schwer zuckerkrank.“ Als sie im Norden Jordaniens angekommen waren, gab es keine Hilfe für ihn. Keine Medikamente, keinen Arzt, kein Geld, um nach Amman zur Behandlung in die Klinik zu fahren. Als er körperlich bereits am Ende war, gab es nur eine einzige Überlebenschance: zurück nach Syrien. Dort hatte er einen Arzt, der sich kümmerte. Niemand weiß, ob er die Befragungen durch die Polizei wegen seiner Fluchthilfe für die Familie überlebt hat. Die Mutter muß ihre sieben Kinder alleine durchbringen. Wie? Das weiß sie nicht.

Der Fall dieser Familie ist exemplarisch. Zwei der größeren Töchter hatten in Syrein bereits studiert. Jetzt sind sie Flüchtlinge in einem fremden Land. An eine weitere Ausbildung ist nicht zu denken. Das Regime riskiert längst die Zukunft seines Landes. Reihenweise sind bereits Schulen und Universitäten geschlossen. Auf dem Land ermordeten Regierungs-Soldaten, und das ist tatsächlich bewiesen, die Tiere von Bauern. Kühe, Schafe, Ziegen werden mit Maschinengewehrsalven niedergestreckt. Damit sind alle Lebensgrundlagen zerstört. Der Aufbau neuer Herden dauert viele Jahre.

Es gibt viele widersprüchliche Nachrichten aus Syrien, was soll man glauben? Zu einem gewalttätigen Krieg gehört Kriegspropaganda. Von beiden Seiten. Das war zu allen Zeiten so. Wenn wir unterwegs sind, um Menschen zu helfen, wurden uns allerdings nie die Handyvideos mit den schrecklichen Szenen gezeigt. Denn die betroffenen Menschen sind schamhaft. Niemand erzählt einem Fremden nach drei Minuten von seinen traumatischen Erlebnissen. Anstelle von Propaganda passiert etwas ganz anderes: Die Flüchtlinge laden uns auf ein Glas Saft ein. Und eines ist offensichtlich: Niemand ist freiwillig hier!

Einer Familie aus Homs, die erst vor zwei Tagen den Bombardierungen entkommen ist, sind die europäischen Haarspaltereien fremd. Ob das Haus nun von Artilleriegranaten oder Panzern zerstört worden ist – es ist zerstört, der Hausrat für immer vernichtet. Ob der fehlende Fuß von einer Mine oder Schüssen zerfetzt worden ist – er ist nicht mehr am Bein. Uns begegnet Not, höchste Not. Es geht um Hunderttausende, die im Elend auf Hilfe warten. Und die kommt nicht, oder braucht zu lange, oder ist zu wenig. Als 33 chilenische Bergleute verschüttet waren, hat die gesamte Welt sofortige Hilfe angeboten. Das war gut so. Und notwendig. Sie konnten gerettet werden. Jetzt sind hunderttausende Syrer in höchster Not: helft! Sofort!

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