Die Bombe explodiert. Ein Feuerball steigt auf. Die Wucht der Explosion sprengt Fensterscheiben heraus, die Erschütterung ist kilometerweit zu spüren. Es brennt. Tausende Menschen haben ihre Wohnungen verlassen und sind in Notunterkünfte umgezogen. Als all dies passiert, sind wir im fernen Beirut und hören von der gezielten Sprengung der Flieger-Bombe in München-Schwabing nur über das Internet. Es ist ein ferner Gruß eines Weltkrieg-Relikts, das 70 Jahre lang im Boden schlummerte und es dennoch schaffte, die Münchener tagelang in Angst zu versetzen. Was bleibt, ist eine Vorstellung vom Krieg, von der Unsicherheit und dem Schrecken, die er mit sich bringt. Für die Syrer, die ihr Land noch nicht verlassen haben, ist die Bedrohung durch Bomben und bewaffnete Gefechte Alltag.
Aber auch für die Flüchtlinge in Türkei, Irak, Libanon und Jordanien ist der Krieg noch ganz nah. „Letzte Nacht haben Türen und Fenster geklappert, als wären sie offen“, erzählt uns Ali Al Badawi aus dem Wadi Khaled im Nord-Libanon. „Die Gefechte gingen die ganze Nacht durch, man kann kein Auge zu tun.“ Homs ist nur 20 Kilometer entfernt; vor allem im grenznahen Tell Kalakh wird schwer geschossen. Kurz nach unserer Rückkehr nach Deutschland erfahren wir, dass syrische Armeehubschrauber und Kampfflugzeuge tief über das Wadi und darüber hinaus auf libanesisches Gebiet fliegen.
Flüchtlingszahlen im Nord-Libanon steigen weiter
Ali Al Badawi ist der Mukthar, eine Art Bürgermeister, von Rame, einem Ort im Wadi Khaled. Seit über neun Monaten trifft ihn Christian Springer regelmäßig und unterstützt die Versorgung der nach wie vor in das winzige Hochtal strömenden Syrer. Wir treffen den Mukhtar im nord-libanesischen Qubaijat, nur einen Katzensprung vom Wadi Khaled entfernt. Trotzdem ist es für uns unerreichbar. Auch diesmal dürfen wir nicht hinein, da das libanesische Militär das Hochtal nach wie vor abriegelt. „Einmal im Monat kommt das UNHCR mit Essenspaketen“, berichtet Ali, der als Libanese im Wadi ein- und ausgehen kann. „Aber sie geben sie nur an einen Bruchteil der Flüchtlinge aus, nämlich an die offiziell registrierten. Es ist alles viel zu wenig.“ Denn auch bei der Flüchtlingshilfe in einem Krisengebiet regiert sie, die Bürokratie.
Ali Ali Badawi hat aber auch eine gute Nachricht: Die syrischen Flüchtlingskinder können im Herbst libanesische Schulen besuchen und bekommen so ein Stück Alltag zurück. Trotzdem fehlt es an Material, Kleidung, Heften, Büchern und Stiften. Wir entscheiden, dass Orienthelfer e.V. diese Anschaffungen mit dem Spendengeld aus Deutschland unterstützt, damit die Kinder im Wadi ihre Schulausbildung fortsetzen können. Auch in Zukunft werden wir engen Kontakt ins Wadi halten, um die Not dort zumindest ein wenig zu lindern.
Der Syrien-Konflikt greift auf den Libanon über
Im UNHCR-Büro in Qubaijat sprechen wir später mit Mitarbeitern: Jede Woche kommen circa 80 Familien in den Nord-Libanon und das seit über einem Jahr. Insgesamt hat das UNHCR momentan 37.000 Flüchtlinge registriert, vor allem im Nord-Libanon und der Bekaa-Ebene. Dazu ein Vergleich: Im nahen Tripoli, der zweitgrößten libanesischen Stadt leben 200.000 Einwohner. Für ein so kleines Land wie den Libanon sind die hohen Flüchtlingszahlen eine enorme Belastung. Neben politischen und sozialen Problemen drohen auch konfessionelle Spannungen. Alte Konflikte brechen wieder auf. So bekämpften sich Sunniten und Alawiten Mitte August tagelang in Tripoli. Es gab mehrere Tote und über hundert Verletzte. Das libanesische Militär musste eingreifen, um die Ruhe zumindest an der Oberfläche wiederherzustellen. Trotzdem brodelt es weiter und der syrische Bürgerkrieg greift immer mehr auf das kleine Nachbarland über.
Zudem bekämpfen sich Syrer – Gegner und Befürworter Assads – auch hier, auf libanesischem Staatsgebiet. Erst Mitte August haben bewaffnete Gruppen in Beirut und der Bekaa-Ebene mehrere Syrer entführt. Im mondänen Beirut spürt man von den Spannungen nichts. Hier hören wir aber von zynischen Auswüchsen, die der Bürgerkrieg in Syrien mit sich bringt: In Damaskus und im Süden von Homs werden auf sogenannten „Sunni Markets“, einer Art Flohmarkt, Mobiliar und sonstige Habseligkeiten getöteter oder vertriebener sunnitischer Familien zu Billigpreisen verscherbelt. Auch das gehört zu den vielen Facetten, die ein Krieg hat.
Tripoli: Anlaufstellen für syrische Flüchtlinge
In Tripoli besuchen wir eine Anlaufstelle für Flüchtlinge, die von der libanesischen Regierung geduldet wird und somit offiziell arbeiten kann. Die Dschamaijat al-Bascha’ir kümmert sich um 5.000 Flüchtlingsfamilien, umgerechnet ca. 30.000 Einzelpersonen. Die Einrichtung ist auf zwei Häuser verteilt: die Anlaufstelle und eine 24h-Notfallambulanz, beide unter libanesischer Leitung. Neben Notfällen werden hier HNO-Erkrankungen ebenso behandelt wie Zahnschmerzen. Die Kosten werden ausschließlich durch Spenden gedeckt. Als wir ankommen, ist das Wartezimmer voll. Die verschiedenen Praxisräume sind karg bis gar nicht eingerichtet. Dennoch tun alle, was in ihrer Macht steht und wir sind beeindruckt von der Energie und dem Einsatz dieser Menschen. Was fehlt, ist wie immer Geld. Auf dem Schreibtisch von Dr. Hicham, dem liba-nesischen Leiter der Ambulanz, stapeln sich unbezahlte Rechnungen für Behandlungen, Material und Medikamente. Da er sich um Tausende Flüchtlinge kümmern muss, geht es um enorme Summen. Wir erfahren, dass momentan 660 syrische Kleinkinder unter einem Jahr registriert sind. Allein die Kosten für Milch betragen pro Monat 10.000 Dollar – wir entscheiden sofort, dass Orienthelfer e.V. davon monatlich die Hälfte bezahlen wird. Trotzdem haben wir das Gefühl, dass das nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein ist.
Die nächste Station in Tripoli ist das Markaz al-Ibrar, ein Reha-Zentrum für bereits operierte syrische Männer, das Christian Springer bereits auf seiner letzten Reise besuchte. Alle von ihnen sind Opfer bewaffneter Auseinandersetzungen. Am Eingang des Gebäudes sitzen sie im Freien, junge Männer, denen Hände, Füße oder ganze Gliedmaßen fehlen. Ein erschütternder und deprimierender Anblick. Im Inneren treffen wir zwei junge syrische Ärzte. Beide wurden zu Beginn des Bürgerkriegs in Damaskus inhaftiert, als die Regierung wahllos Ärzte einsperrte. Danach sind sie geflohen und betreuen seither mit großem Engagement viele Versehrte in Tripoli. Ihre Patienten haben einerseits Glück gehabt – sie leben, wurden operiert und befinden sich in relativer Sicherheit. Doch für weiterführende Behandlungen, Prothesen etc. gibt es kein Geld und das wissen sie. Wie sieht die Zukunft nach Ende des Krieges aus, wenn man Schreiner war und die rechte Hand unbrauchbar ist? Schicksale wie diese gibt es hier unendlich viele. Die Ärzte zeigen uns mehrere ausgewählte Fälle, bei denen durch Operationen Ellbogen-Gelenke beweglich gemacht oder Hände wiederhergestellt werden können. Orienthelfer e.V. wird sich daran je nach Höhe der Kosten beteiligen oder sie ganz übernehmen.
Beirut: Die Not der Frühchen im staatlichen Krankenhaus Hospital Mustaschfa Hariri Hukuma
Der nächste Tag führt uns ins staatliche Krankenhaus Mustaschfa Hariri Hukuma in Beirut. Unsere syrischen Kontaktleute können uns nicht bis hierher bringen. „Too many eyes around“, sagen sie. Sie wurden gewarnt, dass sich Spitzel in und um das Krankenhaus bewegen und sie besser fern bleiben sollen. Was wir auf der Frühchen-Station sehen, schockiert uns. Durch Mangelernährung, physischen und psychischen Stress bringen viele syrische Frauen ihre Kinder viel zu früh zur Welt. Fünf von ihnen liegen in Brutkästen dieses Krankenhauses. Wir sehen Babies, die teilweise unter einem Kilogramm wiegen und deren Leben am seidenen Faden hängt. Ihre Zukunft ist ungewiss: Sie sind als Flüchtlinge, teilweise als Halb-Waisen, in einem fremden Land zur Welt gekommen und brauchen intensive Behandlung, um überleben zu können. Das Krankenhaus kümmert sich zusammen mit Spendern um die Winzlinge. Das Entscheidende ist aber auch hier wieder das Geld: Ein Platz in einem Brutkasten kostet pro Tag 200 Dollar – und das ohne jede weiterführende medizinische Behandlung. Auch hier übernehmen wir sofort die Kosten für einen Monat. Aber was passiert danach?
Unser Fazit lautet auch diesmal wieder: Es gibt viel zu tun, mehr als alle Hilfsorganisationen zusammen bewältigen könnten. Dazu brauchen wir Ihre Unterstützung! Die Not wird immer größer. Die weitere Entwicklung ist schwer abzusehen. Mitte September besucht Papst Benedikt XVI. vier katholische Patriarchate im Libanon. In Beirut wird entlang der Straßen auf Videotafeln für die große Friedensmesse geworben. Wir sind gespannt, welche Worte Benedikt für diese gebeutelte Region finden wird. Und welche Taten werden ihnen folgen?
Sabine Kroiß, September 2012
Orienthelfer e.V.
www.orienthelfer.de